Ansätze eines neuen Arbeitsbegriffs?
Der arbeitende Mensch – ein Auslaufmodell
Künstliche Intelligenz, Biotechnologie, Industrie 4.0, Internet of Things, Blockchain und Change-Management sind die Begriffe, die täglich die Medien füllen. „Disruptive Veränderungen“ – so das neue Modewort – stehen uns durch die neuen Technologien bevor. Nichts wird mehr so wie vorher sein. Kühlschränke werden wissen, wann und was einzukaufen ist, Läger werden nach Erreichung einer Untergrenze von unsichtbarer Hand aufgefüllt. Integrierte Mobilitätssysteme transportieren uns „autonom“ von A nach B und Lieferketten steuern sich selbst. Nahezu menschenleere Fabriken können wir bereits bei den namhaften Automobilherstellern vor unseren Haustüren besichtigen. Einfache repetitive Arbeiten werden in Zukunft von Robotern erledigt, aber auch andere, komplexere administrative Tätigkeiten wie die Prüfung und Vergabe von Krediten, die Gestaltung von juristischen Verträgen sowie medizinische Operationen werden in Zukunft von Robotern mit Unterstützung von KI durchgeführt. Dabei versteht man unter KI in erster Linie selbstlernende Systeme, die durch entsprechende Programmierung, selbständig Daten suchen, aufbereiten und ggf. Handlungsempfehlungen oder automatisierte Reaktionen daraus ableiten. Siri und Cortana sind dank Spracherkennung unsere persönlichen Assistenten. Facebook schlägt dank Gesichtserkennung Foto-Tags vor. Amazon empfiehlt Produkte gemäß seinen selbstlernenden Algorithmen. Waze sucht mit einer Kombination aus vorausschauenden Modellen, Prognosen und Optimierungsmethoden die besten Routen heraus. Nur ein Team aus spezialisierten Datenexperten und Entwicklern ist in der Lage, die richtigen Daten aufzubereiten, die richtigen Modelle zu erstellen und dann die Prognosefunktionen in eine Benutzeroberfläche zu integrieren. Welche Auswirkungen werden diese Technologien auf die Arbeitswelt haben?
Laut einer aktuellen Studie des IAB lassen sich im Segment „Fertigungstechnische Berufe“ fast 65 Prozent der Tätigkeiten automatisieren. In den Chemie- und Kunststoffberufen lassen sich 89,9 Prozent der Tätigkeiten von Maschinen erledigen. Und während sich ein Musiklehrer noch nicht und der Postbote zumindest teilweise vom Computer beziehungsweise der Drohne ersetzen lässt, können 83,3 Prozent der Arbeiten eines Helfers in der Pharmatechnik problemlos von Robotern erledigt werden. In allen anderen Berufssegmenten liegt das gewichtete, durchschnittliche Substituierbarkeitspotenzial unter 50 Prozent. Insgesamt können Computer in den nächsten Jahren Jobs von 4,4 Millionen Deutschen übernehmen. Wen die Details der Studien interessieren, findet hier Fakten.
Wie sind wir auf diese Veränderungen vorbereitet? Klar ist, dass selbst bei wachsender Weltbevölkerung und zu erwartendem Ansteigen des Investitions- und Konsumverhaltens in den Schwellenländern, die Arbeitskraft von immer weniger Menschen zur Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen benötigt werden. Steigen wird der Bedarf nur für hochqualifizierte Menschen, die im Sektor Programmierung und Steuerung der automatisierten Prozesse eingesetzt werden. Auch diese Tätigkeiten werden jedoch sukzessive von lernenden (KI) bzw. automatisierten Systemen und sogenannten neuronalen Netzwerken übernommen werden. Bleibt die Frage, was der Mensch tut, wenn er nicht mehr im herkömmlichen Sinn „arbeiten“ kann, darf oder muss. Empfinden wir das als Segnung oder als Fluch?
Arbeit und Einkommen – wie ist das verbunden?
Die erste Frage für die vom Erwerbsarbeitsplatzabbau betroffen Menschen ist die Frage nach dem Einkommen. Wovon sollen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten? Einkommen wurde bisher für die zur Verfügung gestellte Arbeitszeit ausgezahlt. In Zukunft werden wir andere Begründungen finden müssen, Menschen für den Bezug der von Robotern, IOT und KI hergestellten Gütern zu berechtigen. Benötigen wir für die aus der abhängigen Erwerbsarbeit entlassenen bzw. befreiten ein Grundeinkommen oder Konsumrechte? Was legitimiert Menschen Güter, Wohnung, Transportmittel etc. zu beziehen? Ist das nicht ein Menschenrecht? Kann dieses Recht verdient werden? Wie rechnen wir Menschen eine Leistung zu? Verkürzen wir die Erwerbsarbeit für jeden Menschen auf 2 Tage in der Woche oder 2 Stunden pro Tag und erhöhen wir die Stundenlöhne auf ein Niveau, dass man davon den Lebensunterhalt bestreiten kann. Oder laden wir jedem Menschen jeden Tag so viele Bezugsrechte aus einem definierten Warenkorb auf sein Handy, dass er seine Bedürfnisse befriedigen kann. Wer legt dann fest, welche Bedürfnisse angemessen sind und welchen Einfluss hat das auf die Freiheit und Selbstbestimmung?
Denkbar wäre auch, dass alle ehemaligen Mitarbeiter beim Ausscheiden aus den Unternehmen Anteile bzw. Aktien von ihren Arbeitgebern erhalten, damit sie an den Produktivitätsfortschritten, – dem Kapital aller Menschen -, zu dessen Bildung sie durch ihre Arbeit und schließlich durch ihr Ausscheiden beigetragen haben, teilhaben? Dies hätte die Wirkung, dass sie über die Wertsteigerung der Aktien und Dividenden Kapitalerträge aus den zukünftigen Produktionssteigerungen der Unternehmen beziehen. Als Konsequenz würden die ehemaligen Mitarbeiter zu Aktionären und auf diese Weise dauerhaft mit Einkommen versorgt. Über ihre Funktion als Aktionäre könnten sie Einfluss auf die Unternehmenspolitik nehmen und damit weiter zur Kapitalbildung beitragen. Das sind Ansätze für die entscheidenden Fragen der zukünftigen Gestaltung von Gesellschaft, denen wir uns gemeinsam stellen müssen.
Arbeit und der Zustand der Seelen
Eine weitere Frage ist, wie wir diesen Paradigmenwechsel seelisch verkraften und wie wir die Zeit füllen mit sinnstiftendem, kreativem Engagement. Was können wir tun, um Mensch und Gesellschaft in Bezug auf Bildung, Sozialität und die Institutionen der Teilhabe an den politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen zu verändern und einzustimmen, damit es nicht zu einer Spaltung oder Verwerfungen der Gesellschaft kommt? Wie können wir die Chancen nutzen, die in der Befreiung des Menschen von fremdbestimmter Arbeit liegen? Werden wir alle Unternehmer/Innen unseres Lebensweges und Mitbestimmende am Schicksal der Welt? Wir sind Teilhaber/Innen der Schöpfung und unsere Lebenskraft ist ein Investment, das in seiner Ausprägung einen Unterschied macht. Sprechen wir in Zukunft in die Bildschirme und schauen wir in die digitalen Fenster unserer Behausungen, um die Zukunft zu entwerfen, deren Szenarien uns von einer KI simuliert werden, die wir dann untereinander abstimmen und Realität werden lassen – nach dem Motto: Gott sprach und es ward …? Was meinen wir mit Intelligenz und was bedeutet es, dass sie künstlich ist? An welchem Bild von Mensch als Wesen im Sein orientieren wir uns. Erfinden wir die Welt neu? Erschaffen wir neue Menschen. Ist das eine Verführung oder unsere Bestimmung?
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Aus den o.a. Gründen scheint es geboten, sich über den Sinn, die Bedingungen und Bestimmung menschlicher Arbeit neu abzustimmen und Gefäße, Strukturen und Bildungsstätten zu schaffen, in denen die freiwerdenden Potentiale aufgenommen und in neue Gestaltungsinitiativen überführt werden. Wir wollen diese Veränderung als Chance ansehen, dass der Mensch von entfremdeter, abhängiger Erwerbsarbeit befreit wird und nun die eigentliche Arbeit als Ausdruckskraft schöpferischen Wirkens beginnen kann. Versuchen wir also zunächst den Begriff der Arbeit neu zu (be-) gründen, indem wir nach seinem Ursprung forschen. Wir machen das dieser Stelle sehr kurz und schlagwortartig, weil es dazu bereits ausreichende Quellen gibt.
Woher kommt der Begriff Arbeit?
Der Begriff der Erwerbsarbeit taucht im 13. Jahrhundert in unseren Kulturkreisen auf. Er markiert den Übergang von der Subsistenzwirtschaft zur Fron- oder Lohnarbeit. Die handwerklich- landwirtschaftliche Gesellschaft geht über in eine gewerblich industrielle Form, in der Güter mit Geld gehandelt werden. Abhängigkeit und Mühe prägen die tägliche Arbeit der Menschen in dieser Zeit. Arbeiten bedeutet, Lasten zu tragen, schwankend unter dem Gewicht einer Aufgabe durch das Leben zu gehen. Es bildet sich eine Gesellschaft, die Karl Marx als „Klassen“ bezeichnet (Klasse, Gesellschaftsschicht). Sie teilt sich in die von der Vermarktung ihrer Arbeitskraft abhängigen Arbeiter und die Kapitalisten als Eigentümer der Produktionsmittel, die über die Arbeitsbedingungen bestimmen. Dieser Grundzustand besteht bis heute. Zur Vertiefung: https://www.etymonline.com/search?q=Labour
Arbeit kommt vom lateinischen Arvum, also Acker. Denn für die meisten Menschen bedeutete Arbeit Landwirtschaft. Im Alt- und Mittelhochdeutschen bedeutete das Wort „Mühsal“, „Strapaze“, „Plage“. In der russischen Sprache leitet sich das Wort von „работа“(rabota), das von „раб“(rab), d.h. Sklave, her. Der russische Adel ließ lieber arbeiten: Die Leibeigenschaft, eine Form der Sklaverei, wurde dort erst 1861 offiziell abgeschafft – 50 Jahre später als in Westeuropa.
Die Betriebswirtschaftslehre bezeichnet Arbeit als Wertschöpfung. Rohstoffe werden durch Bearbeitung mehr wert. Sie werden als wertvoll bezeichnet, weil sie dem menschlichen Nutzen im bearbeiteten Zustand besser dienen als im Naturzustand. Der Mensch übt seinen Willen über die Schöpfung aus und bewertet die Ergebnisse. Sie werden unter seiner Willensherrschaft ein Gut oder ein Nicht- Gut. Der Maßstab dafür ist ein Ergebnis der Werte, die ein Kulturgemeinschaft für erstrebenswert hält. Die Gaben und Fähigkeiten zur Bearbeitung der Natur durch den Menschen stehen im Dienst eines bestimmten Bildes des Menschen, das durch die an den Naturstoffen verrichteten Arbeit verändert wird. Der Mensch gestaltet und formt sein Leben individuell und sozial durch die Bearbeitung der Dinge und sozialen Beziehungen. Er verändert seinen Zustand indem er an den Dingen und Beziehungen Gaben zu Fähigkeiten ausbildet. Dabei bestimmen in erster diejenigen, die die Macht haben, anderen ihr Gesellschaftsbild aufzuoktroyieren. Die Herrschenden nennen das Fortschritt, wenn man sich ihrem Idealbild nähert oder Rückschritt, wenn sich die Wirklichkeiten von diesem Bild entfernt.
Arbeit ist eine Tätigkeit, mit der Menschen in ihrer Umwelt so zu leben versuchen, dass es ihnen lebenswert oder sinnvoll erscheint. Arbeit ist aber auch schöpferische Tätigkeit. Die Auseinandersetzung mit Gestaltungsaufgaben in Gesellschaft und Natur führt zu neuen Formen. In der Arbeit verwirklicht und entäußert sich der Mensch individuell und kollektiv. Im Werk seiner Arbeit begegnet ihm ein Bild, in dem er seine Wesenszüge erkennen und herausarbeiten kann. In der Betrachtung, Reflektion und dem Diskurs über die Ergebnisse seiner Arbeit ergibt sich kollektiv eine Form von Gemeinschaft und dem, was nur in gemeinsamer Arbeit erarbeitet werden kann. Diese Formen bezeichnen wir als Unternehmen oder Inkorporationen (sich eine Form geben). Die Geschichte der Arbeit ist der Prozess der Ausdifferenzierung und Gestaltung des Bildes des Menschen von sich selbst und der Welt, in der er lebt.
Wie es begann … die Erfindung der Arbeit ist kein Freiheitsakt
Im Zuge der Neolithischen Revolution begannen die Menschen, ihre Nahrungsmittel selbst herzustellen – und dazu mussten sie wohl oder übel an einem Ort bleiben und Dorfgemeinschaften bilden. Da sie langsam immer besser wurden mit der Feldbewirtschaftung und Viehhaltung, konnten sie mehr Nahrungsmittel herstellen, als sie brauchten. Mithilfe der Überschüsse war es erstmals möglich, spezialisierte Arbeiter zu beschäftigen und sie während der Planungs-, Entwurfsarbeit und Konstruktionsarbeit zu ernähren. Die Einen ernährten die Anderen, um anschließend von deren Ergebnissen bereichert zu werden. Die Arbeitsteilung war erfunden. Wir wissen nicht, was die Leute vorher gemacht haben. Vielleicht jagten sie Mammuts zum Spass, pflegten sinnstiftende Rituale, erzogen ihre Kinder und erfanden Gesellschaftsspiele. Bevor man auf die Idee kam, Arbeit gegen Ware einzutauschen, war sie ein Tauschgut. Hilfst du mir, so helfe ich dir war die Kraft, die Menschen miteinander verband. Man könnte auch denken, die Gier der Menschen veranlasste sie die Arbeit über den unmittelbaren Bedarf hinaus auf Güter auszudehnen, die ihrem Bedürfnis nach Luxus – Selbstverwirklichung, Eitelkeit, Macht oder der Anbetung eines Menschbildes namens „Kultur“ dienten.
In der Antike war körperliche Arbeit negativ stigmatisiert. Die großen Denker blickten auf die Schufterei herab und widmeten sich lieber der geistigen Schöpfung. Wer gezwungen war zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, galt als „unfrei“.
Erst die Protestantische Ethik von Martin Luther (und noch viel mehr der Calvinismus) machte Arbeit zu einer ehrenwerten Sache – und das Nichtarbeiten zu einer gefährlichen. In der Bibel (2. Thessalonicher 3,10-11) lesen wir: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Dieser Satz erfreute sich in der Politik großer Beliebtheit: August Bebel, Hitler und Stalin benutzten ihn.
Mit der Aufklärung verbreitete sich die Idee eines Rechts auf Arbeit. Deutsche Philosophen erklärten Arbeit sogar zur Existenzbedingung und sittlichen Pflicht des Menschen. Kant allerdings thematisierte in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) die Schutzfunktion der Faulheit: „Denn die Natur hat auch den Abscheu für anhaltende Arbeit manchem Subjekt weislich in seinen für ihn sowohl als andere heilsamen Instinkt gelegt: weil dieses etwa keinen langen oder oft wiederholenden Kräfteaufwand ohne Erschöpfung vertrug, sondern gewisser Pausen der Erholung bedurfte.“ Hat Kant da an ein Recht auf Widerstand gegen die heutige Entgrenzung der Arbeit gedacht, die unter der Bezeichnung burn-out kursiert?
Im Jahre 1880 verfasste Karl Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue „Das Recht auf Faulheit“ – übrigens als Gegenentwurf zum durch die Französische Revolution eingeführten „Rechts auf Arbeit“. Er war der Meinung, dass drei Stunden Arbeit am Tag ausreichen sollten – übrigens ist das in etwa die Zeit, die Jäger und Sammler für ihr Tagwerk aufwendeten. Lafargue hatte zurecht ein grausiges Bild von Arbeit. Gerade mal 200 Jahre ist es her, dass im Zuge der Industrialisierung die Lohnarbeit aufkam. Und die war alles andere als ein Vergnügen. Die Maschinen sollten möglichst rund um die Uhr ausgelastet werden und so waren 15-Stunden-Schichten keine Seltenheit. Die monotone Akkordarbeit an den Maschinen entfremdete die Arbeiter von Inhalt und Sinn ihrer Tätigkeit und erschöpfte sie psychisch und physisch. Kinderarbeit, Hungerlöhne und eine fehlende soziale Absicherung bei Erwerbslosigkeit, Unfall, Krankheit oder Tod ließen die Arbeiter und ihre Familien verelenden. Die katastrophalen Wohnverhältnisse in den Städten taten ein Übriges. Durch die Lohnarbeit war die Arbeitskraft, ja der Arbeiter selbst zu einer Ware geworden. Karl Marx schrieb in „Lohnarbeit und Kapital“*: „Der freie Arbeiter verkauft sich selbst, und zwar stückweis. … 8, 10, 12, 15 Stunden seines täglichen Lebens gehören dem, der sie kauft.“
Der „Fluch der Arbeit“ und die „Armut der Begierde“
Wenn man dies Zeilen von Marx liest und die Arbeitsbedingungen der Arbeiter/Innen in den „Sonderproduktions-Zonen“ der heutigen Zeit (des 21. Jahrhunderts) damit vergleicht, könnte man meinen, die Zeit sei stehengeblieben. (https://www.brandeins.de/corporate-publishing/mck-wissen/mck-wissen-china/geballte-ohnmacht)
Der Umgang mit der Würde der menschlichen Arbeit hat sich in Europa unter dem Druck der Arbeitnehmervertretungen verändert. Weltweit sehen wir – auch in der Lieferkette europäischer Unternehmen aber immer noch schlimmste Menschenrechtsverstöße und extensive Ausbeutung (Mexiko, China, Russland, Indonesien etc.). Und sagen wir nicht, wir hätten mit unserem konsumintensiven Lebensstil nicht einen gehörigen Anteil daran. Es ist uns hier doch schon früher aufgefallen, dass es auch ökonomisch keinen Sinn macht, die Arbeiter/Innen bis zum burn-out zu verheizen. Bismarck führte 1883 die Sozialversicherung ein. Im Jahr 1900 wurde der 10-Stunden-Arbeitstag (bei einer 6-Tage-Woche) gesetzlich geregelt. Als Folge der Novemberrevolution einigte man sich 1918/19 auf einen 8-Stunden-Arbeitstag. In den 50er und 60er Jahren setzten beide deutsche Staaten die 5-Tage-Woche und die 40-Stunden-Woche um. Irgendwann mussten die Arbeitenden ja auch Zeit haben, ihr Geld wieder auszugeben: für neue Waren, Hobbys und Vergnügungen. 1990 wurde für einige Branchen eine 35-Stunden-Woche eingeführt. Seit Ende der 1990er Jahre wurden die Arbeitszeitverkürzungen vielerorts zurückgenommen und die Arbeitszeit teilweise wieder auf bis zu 42 Wochenstunden verlängert. Seitdem gab es trotz technischer Fortschritte keine weiteren Versuche, die Wochenarbeitszeit zu verkürzen. Im Gegenteil: Dank Smartphone, Tablet, Laptop und home office arbeiten immer mehr Menschen auch in ihrer Freizeit – oder stehen zumindest auf stand by für ihre Arbeitgeber/Innen.
Unbezahlte Arbeit
Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass Arbeit nicht unbedingt bezahlte Erwerbs-Arbeit ist. Haushalts-, Pflege- und Fürsorgetätigkeiten, Ehrenamt und Freundschaftsdienste sind nach wie vor unbezahlt. Sie genießen zwar eine gesellschaftliche Wertschätzung, gelten aber nicht als Lehrbeispiel für die Arbeit der Zukunft. Im Gegenteil. Wir sind gerade im Begriff auch diese Leistungen zu kommerzialisieren. Helikopter Elternschaft ist das Stichwort, Kindererziehung wird zum professionellen Babysitting. Gebrauchte Kinderkleidung wird nicht mehr verschenkt, sondern auf ebay zu Geld gemacht. Man nimmt nicht mehr einfach jemanden im Auto mit, sondern bietet einen Chauffeurdienst an (Uber). Freunde beherbergen wird zur Übernachtungsdienstleistung (AirBnB). Die erwähnte Idee des Tauschguts, das Menschen verbindet, kommt nur als Randerscheinung oder in Form von Selbsthilfe vor.
Gleichzeitig übernehmen wir unbezahlt immer mehr Aufgaben, die ursprünglich von den Unternehmen erfüllt wurden. Wir bauen unsere Möbel selbst auf. Wir buchen unsere Überweisungen und tätigen Bankgeschäfte mit dem Smart Phone. Wir recherchieren und buchen unsere Flüge und Übernachtungen. Wir checken am Flughafen unser Gepäck selbst ein. Wir diagnostizieren unsere Krankheiten per Chatbot. Wir designen unsere Wohnung selbst. Wir informieren und beraten uns selbst bei größeren Anschaffungen. Manchmal fragt man sich, ob das ein weiterer Grund ist, warum viele Menschen sich so gestresst fühlen: weil wir immer mehr vormals als Dienstleistung deklarierten Teiltätigkeiten übernehmen und damit auch die Verantwortung für das Gelingen tragen. In Zukunft werden wir viele Produkte auf dem 3D Drucker direkt in unserer Wohnung hergestellt. Wir laden die Entwürfe auf unseren PC oder das Smart Phone, passen sie an unseren Bedarf an und drucken sie vor Ort aus. Aus diesen Tendenzen ergeben sich Chancen für die Gestaltung unserer Arbeitsumwelt, aber auch Risiken, die wir abzuschätzen haben, um das, was wir als Qualitätsfortschritt oder „New Work“ ansehen, uns auch tatsächlich dient, das tun zu können, was unserer Bestimmung entspricht.
Neue Arbeit
Unter Neuer Arbeit, New Work oder Arbeiten 4.0 wird heute gern alles subsummiert, was anders als die Old Work ist: weniger oder keine Hierarchien, selbstorganisiert, agil, flexibel, menschenfreundlich. Einer der ersten Wissenschaftler, der sich mit der sogenannten „New Work“ auseinandersetzte war Prof. Frithjof Bergmann. Als geistiger Vater der „New Work Bewegung“ sprach er in seinem Vortrag auf der XING New Work Experience 2017 über den Unterschied zwischen landwirtschaftlicher und Lohnarbeit: Während die Arbeit auf dem Feld und im Stall den Bauern in seiner Selbstwirksamkeit gestärkt habe, schwäche uns die Art der Organisation moderner Lohnarbeit. Bergmann schildert in einem Video, dass er den Begriff „New Work“ in den 70ern für die ersten „Opfer“ der großen Automatisierungswelle entwickelte: Es waren die Arbeiter aus der Automobilindustrie des rust belt (Detroit, Cleveland) in den Vereinigten Staaten. Schon damals stand für ihn fest, dass das klassische Job-System bröckelt – und er stellte sich die Frage: Was werden die Menschen tun, wenn es weniger Arbeit gibt? Hier ist der Link zu dem Video von Frithjof Bergmann: https://www.youtube.com/watch?v=29IoGFD86QM
Im Sinne von Bergmann setzt sich New Work aus den folgenden Faktoren zusammen: 1/3 Erwerbsarbeit zum Überleben, 1/3 Hightech-Selbstversorgung und smart consumption, 1/3 Arbeit, die man wirklich, wirklich will. Letzteres bezeichnet er Nichtarbeit als Suche nach der Bestimmung oder als Befreiung von der Armut der Begierde. Dieser Armutsbegriff bezeichnet einen Todeszustand, der durch die entfremdete Art der Arbeit verursacht ist. „Das Organ, mit dem man will ist abgetötet“, so formuliert es Bergmann. Er relativiert und hinterfragt die Art und Weise, wie wir arbeiten. Unser Jobsystem ist nur 200 Jahre alt. Es wurde aber schon damals von Thomas Jefferson, Charles Dickens und anderen führenden Köpfe mit großer Skepsis betrachtet. Jefferson Kritik: Agrararbeit hat Menschen gestärkt und entwickelt. Lohnarbeit hat keinen menschbildenden Charakter. Sie benutzt den Menschen und bezahlt ihn dafür.
Was ist “Neue Arbeit”?
Man kann die Idee der “Neuen Arbeit” nicht in einen oder zwei Sätze packen. Es ist eine neue Lebens- und Gesellschaftsform, die die sogenannte “Neue Klasse” schon jetzt teilweise lebt. Die “alte Arbeit” ist: man arbeitet und wird von jemandem dafür bezahlt. Der Lohn dient dem Lebensunterhalt, das Leben findet in der Freizeit statt. Nur wenige Menschen mögen ihre Arbeit wirklich. Bergmann spricht von einer “milden Krankheit”, die man erduldet und hofft, dass sie bald vorüber geht. Die klassische Lohnarbeit ist dabei auszusterben. Die Zahl der Arbeitslosen werde mittelfristig steigen, die Unzufriedenheit ebenso. Die Finanzkrise ist noch lange nicht überwunden und dahinter lauert schon die nächste Krise, weil die Menschheit immer noch nicht erkannt hat, dass es so nicht weitergehen kann.
Darum soll das System der Lohnarbeit langsam in die Neue Arbeit überführt werden. Diese soll aus drei Teilen bestehen:
- 1/3 Erwerbsarbeit,
- 1/3 High-Tech-Self-Providing (Selbstversorgung) und smart consumption und
- 1/3 Arbeit, die man wirklich, wirklich will.
Wenn mehr Menschen die vorhandene Erwerbsarbeit unter sich aufteilen, gäbe es weniger Arbeitslose bzw. weniger Menschen, die durch die Arbeit überlastet sind. In der gewonnenen Zeit könnte man zur Selbstversorgung beitragen oder die Arbeit entdecken, zu der man sich wirklich berufen fühlt. Das setzt die allgemeine Bereitschaft zum Um- und Neuverteilen der Arbeit voraus. Die Selbstversorgung im Sinn von Frithjof Bergmann ist nicht, dass sich jeder den eigenen Pullover stricken muss, sondern es geht um High-Tech-Eigen-Produktion und kluges Konsumieren. Neue Arbeit ist der Versuch eine neue Wirtschaftsform zu etablieren, in der nicht mehr die großen Konzerne die Märkte beherrschen, sondern in der durch die Selbstversorgung eine “Ökonomie von unten” entsteht. Hier geht es nicht um Profit, sondern um die Entdeckung der wahren menschlichen Bedürfnisse im direkten Lebensbezug. Diese dezentrale, solidarische Ökonomie ist die Grundlage für die wirklich, wirklich gewollte Arbeit.
Bergmann hat viele solcher neuen Zentren für Arbeit in die Praxis umgesetzt (u.a. in Indien). Ziel der Ausbildung in diesen Zentren ist „To make a difference“, etwas finden im Leben, was mich mit Sinn erfüllt, etwas worin mir Erkenntnis und Freude am Leben begegnet. Etwas, was ich gebe und andere Menschen bereichert. Etwas, das Sinn hat und womit man auch Geld verdienen kann. Nach 4-6 Wochen fanden die Wissenschaftler heraus, dass manche Menschen anfingen zu weinen. Sie empfanden Trauer und Befreiung in der Tatsache, dass sich zum ersten Mal jemand für sie selbst und ihr Leben interessierte. Sie fanden heraus, dass sie etwas tun wollten, „wofür sie sich nicht schämen müssen“. Leider war und ist Arbeit ist nicht immer edel. Es gibt Arbeit, die niemand gerne tun möchte, aber getan werden muss. Aber es ist erniedrigend, wenn nur die Menschen an der unteren Sozialskala diese Arbeit (in Vollzeit) tun müssen. Viele Menschen sterben von der Arbeit. Arbeit tötet, aber Arbeit gibt auch Identität und Leben. Sie ist eine wichtige Form von Teilhabe und bestimmt den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Bergmann möchte, dass die arbeitenden Menschen lebendig werden. Tolstoi schreibt in seinem Roman der Tod des Iwan Iljitsch: Iwan schreit 4 Tage lang, weil er erkennt, dass er nicht wirklich gelebt hat, sondern von der Armut der Begierde gelebt hat.
Samuel Beckett beschreibt in seinem Werk „was bleibt, wenn Schreie enden“ den Zustand der lebenden Menschen als „tot genug um begraben zu werden.“ (Samuel Beckett: „Was bleibt, wenn die Schreie enden? Briefe 1966-1989“, Hrsg. u.a. von George Craig. Übersetzung aus dem Englischen von Chris Hirte, Suhrkamp Verlag, Berlin).
Will sagen: Die meisten Menschen sind während sie leben zu ¾ tot. Sie sind lebendig gefangen in der Armut der Begierde eines Menschbildes, dass aus einem Impuls des „nie genug“ gespeist wird. Ohne Hilfe d.h. ohne ein erlösendes Bild von ihrem Wesen im Sein kommen die Menschen nicht heraus aus der Gefangenschaft der Arbeit, die bestimmt wird durch die Maßlosigkeit (Geist des Mammon) der Selbstverherrlichung und den Mangel an innerer Substanz ihres verliehenen Kapitals. Wir brauchen neue Begegnungsorte, in denen Menschen Wertschätzung erfahren und herausfinden, was sie wirklich wollen. Sie benötigen einen Nährboden, der sie befähigt, die Tätigkeiten zu finden und auszuüben, die ihr Leben mit Freude und Erkenntnis erfüllt. Ist New Work eine Antwort auf die Entwicklung der Digitalisierung, IOT, AI und Robotik? Wie wir die Welt sehen, braucht die Welt eine Unzahl von Zentren, um die Menschen dabei zu unterstützen die Antwort auf die Frage zu finden, was sie auf dieser Erde wirklich wollen. Die Stimme und stillen Schreie derjenigen, die bei dieser Frage in Tränen ausbrechen, weil sie das nie jemals jemand gefragt hat oder man es ihnen ausgeredet hat, müssen gehört werden. Die Tränen müssen ein Gefäß finden, in der die Trauernden Heilung empfangen.
Frank H. Wilhelmi, Frankfurt am Main, 22. November 2019